Marie war zehn Jahre alt, als sie an diesem heißen Julitag des Jahres 1920 das erste Mal in die Stadt kam und jenes eigentümliche Gebäude sah, das die Passauer „die Glasscherbenvilla“ nannten.

Noch nie war sie aus dem elterlichen Bauernhof in Hinterschloss mit seinen drei Kühen, vier Schweinen und einer Schar Hühner herausgekommen und außer ihrem Dorf, das eigentlich nur aus ein paar Höfen bestand, und der Schule im nahen Ortenburg hatte sie noch nichts von der Welt gesehen. Heute aber hatte sie mit dem Vater frühmorgens den Postbus bestiegen, der sie nach gut halbstündiger Fahrt in Passau an der Maxbrücke an der Donau ablud ...



Alles war neu und aufregend, und bald hatte sie sich von der Hand des Vaters losgemacht. Was gab es da nicht alles zu bestaunen: Die Donau, die wie ein tintenblaues Band in der Sonne glänzte, rechts oben grüßte die Burg Oberhaus, links auf dem Bergrücken über dem grün schimmernden Inn sah die doppeltürmige Klosterkirche Maria  Hilf mit ihren kunstvoll gedrechselten Zwiebelhauben herab, und zwischen Inn und Donau erhob sich der mächtige Dom mit seinen drei Kuppeln. Ein reges Treiben herrschte in der Stadt. Die Auslagen der Geschäfte waren mit Waren wieder gut bestückt, und nur vereinzelte Kriegsversehrte und Bettler kauerten am Straßenrand und erinnerten an den vergangenen Krieg. Stuckverzierte, mehr stöckige Häuser brüsteten sich mit großbürgerlicher Eleganz, in den Straßen kurvten chromglänzende Automobile, und nur noch selten kamen ihnen ein paar Pferdedroschken entgegen ...


Endlich standen sie am Abzweig, der von der Neuburger Straße steil hinunter zur Ostuzzistraße führte. Im Haus Nummer fünf wurden sie von Lena, der ältesten Schwester des Vaters, erwartet. Sie war dort als Hausmädchen beschäftigt und sie war es auch, die Marie einen Termin bei Dr. Hanns Ostuzzi besorgt hatte. Dieser hatte seine Praxis in der im Toskana-Rot gestrichenen Villa nebenan. Er galt als „Armenarzt“. Sein soziales Engagement war ebenso bekannt wie sein Entgegenkommen bei Honorarforderungen. Bei Bedürftigen verzichtete er oftmals auf sein Honorar oder war mit der Begleichung in Naturalien einverstanden. Jeweils am Samstagvormittag war seine Praxis für Einkommensschwache und Mittellose geöffnet.

„Da seid ihr ja“, Tante Lena, eine rundliche Frau mit freundlichen Lachfältchen um die braunen Augen, sie mochte die 40 wohl schon gut überschritten haben, trat aus der Haustür und umarmte die beiden. Sie schmunzelte über die großen Augen ihrer Nichte, die staunend vor dem Haus stehen geblieben war und den Kopf nach oben reckte. Balkone mit Marmorsäulen, stuckverzierte Erker, gerahmt mit kunstvoll gestalteten Friesen und mit Spitzhelmen auf dem Dach, gaben dem Gebäude ein romantisches, verzaubertes Aussehen. Über den Fenstern wachten Engelsköpfe und Frauengesichter aus Stuck und lächelten auf die staunende Marie herab. Vorsichtig, ja ehrfürchtig berührte sie die mit Bruchstücken von Kruzifixen, gebrochenen Porzellanfiguren und bunten Steinen geschmückte, reich gegliederte Fassade. Perlmuttweiß schimmernde Muscheln und Blumen bildeten schwungvoll verschlungene Ornamente und Medaillons, und smaragdgrüne Steine funkelten in der Sonne.

Ein Märchenschloss!

...

Die Glasscherbenvilla Passau
Foto privat