Leseprobe englische Tochter


 Die englische Tochter
   Das Leben der Gwenddydd  Herkomer

Der Geburtstag

Sieben Uhr am Morgen                                                     7. Oktober 1913
Dumpf schwangen die Kirchturmschläge der Stadtpfarrkirche über den Fluss. Noch waberte grauweißer Nebel über der Landschaft und verdeckte 
den Blick auf den Lech und die mittelalterliche Stadt. Die pittoresken Altstadthäuser von Landsberg am Lech, die das gegenüberliegende Flussufer wie eine Perlenschnur säumten, ließen sich nur erahnen. Die Luft roch nach Herbst und Laub, das sanft von den Bäumen zur Erde schwebte. Die Gischt des Flusses, der tollkühn über die hölzernen Stufen des Lechwehrs polterte, wirbelte wassergetränkte Luft das Flussbett entlang.
Die junge Frau, die in ihrem Schlafzimmer im zweiten Stock des Turms am Fenster stand, hatte dieses geöffnet und sich weit über die Brüstung gelehnt. Bis hier oben war das Rauschen der Wassermassen zu hören und die feuchte Kühle ließ sie frösteln. Ein Schwarm schwarzer Krähenvögel hob sich plötzlich aus dem Geäst der hohen Birken und flog kreischend davon.
„Good morning and happy birthday, dear Gwenny … Oh, dear God, Gwenddydd, weg vom Fenster, du holst dir noch die Schwindsucht … aber auf mich hört ja niemand.“ Rose, die Perle des Hauses, Köchin, Faktotum und Kinderfrau zugleich, stellte erschrocken das Tablett, mit dem sie zur Türe hereinkam, auf dem Tisch ab. Vom Heraufsteigen der steilen Wendeltreppen kurzatmig geworden, keuchte sie schwer. Energisch zog sie die junge Frau vom Fenster weg und schloss es. Immer noch ließ sie der Blick nach unten schaudern. Mit vier Stockwerken erhob sich der im normannisch romantisierenden Stil erbaute Turm majestätisch am linksseitigen Lechufer und sein goldenes Dach leuchtete weit hinein in die Stadt. Der englische Malerfürst Hubert von Herkomer hatte den Turm zu Ehren seiner verstorbenen Mutter erbaut. Gwenddydd, seine Tochter, war seit Kindertagen vernarrt in diesen Turm, und zu ihrem 16. Geburtstag hatte sie durchgesetzt, hier oben im zweiten Stock ihr Reich einzurichten.
„Ach Rose, du bist ein alter Angsthase, ich muss doch sehen, wie das Wetter an meinem Geburtstag wird. Daddy hat versprochen, dass wir bei schönem Wetter alle einen Ausflug mit dem Automobil machen. Aber schau“, die junge Frau stellte sich auf die Zehenspitzen, „siehst du nicht auch da drüben am Berg etwas Goldenes aufblitzen? Ich glaube, es ist das Kreuz der Jesuitenkirche, das aus dem Nebel auftaucht – ein gutes Zeichen, dass sich die Sonne durchsetzen wird.“
„Jetzt erst mal marsch wieder ins Bett, junge Dame, aufwärmen und einpacken!“ Resolut zog Rose die junge Frau, die nur mit einem weißen Musselin-Nachthemd bekleidet war, endgültig vom Fenster weg und scheuchte sie ins Bett zurück. Sie baute das Frühstückstablett vor ihrem Schützling auf: „Jetzt gibt’s erst mal deinen early morning tea, du weißt ja: Tee am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen … und alles Liebe zum Geburtstag, liebe Gwenny. Ich mag es kaum glauben, gestern noch hab’ ich dich auf meinen Knien geschaukelt, und jetzt bist du eine junge Dame von 20 Jahren … Ach Gott, wie doch die Zeit vergeht!“ Die alte Rose seufzte und zog liebevoll die Bettdecke über die gerten-schlanke Mädchengestalt.
Behaglich räkelte sich Gwenddydd noch einmal im Bett, nahm einen Schluck Tee mit einem Bissen Keks und seufzte wohlig. „Danke liebe Rose. Ich bin ja schon so aufgeregt, Daddy und Mummy taten so geheimnisvoll, es werde einige Überraschungen geben … ich kann es kaum erwarten … weißt du etwas?“
Rose gehörte schon seit Urgedenken zum Haushalt der Familie. Die Sechzig hatte sie schon gut überschritten. Wohlbeleibt und stets mit einer weiß gestärkten Schürze bekleidet stellte sie das Idealbild einer viktorianischen Köchin dar. Sie kannte Gwenddydd von Kindesbeinen an. Jetzt strich sie ihr zärtlich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus dem Gesicht: „Und wenn ich es wüsste, my little princess, würde ich es dir nicht sagen, sonst wäre es ja keine Überraschung mehr … So – und nun trink deinen Tee, und ich schicke dir gleich Babette, dass sie dir beim Ankleiden hilft. Du weißt ja, der Professor schätzt es, wenn alle pünktlich um neun Uhr zum Frühstück erscheinen – obwohl – wer weiß – er hatte eine ziemlich schlechte Nacht heute …“
Den letzten Satz hatte sie kaum hörbar gemurmelt und damit das Zimmer verlassen.

Die Westminster-Melodie der großen Standuhr schwang noch durch das Haus, als Gwenddydd beim letzten Glockenschlag Punkt neun Uhr die Treppe im Mutterturm herunterkam und durch den hölzernen Gang, der Turm und Wohnhaus verband, das Speisezimmer betrat. Sie war sportlich gekleidet, eine weiße hochgeschlossene Spitzenbluse und ein schmal geschnittener brauner Wollrock mit hoch angesetzter Taille ließen sie noch schlanker und zarter als sonst erscheinen. Die Haare waren – dank Babettes Künsten – zu einer eleganten Hochfrisur aufgesteckt. Die Familie, der Vater, die Mutter und ihr älterer Bruder Lorenz standen schon erwartungsvoll um den Esstisch. Wie auf Kommando tönte es durch den Raum: „Happy birthday, dear Gwenddydd …“
Auf dem Tisch war der Geburtstagskuchen, ein sponge cake, aufgebaut, prächtig bunt verziert und von 20 brennenden Kerzen umrahmt.
„Oh, wie schön!“ Gwenddydds dunkle Augen strahlten vor Freude, dann lief sie auf Eltern und Bruder zu und umarmte sie stürmisch.
„Gemach, gemach, kleiner Wildfang, das ist ja erst der Auftakt zu deinem ganz besonderen Geburtstag. Jetzt stärken wir uns erst einmal, Bescherung danach im Blauen Salon.“ Der Vater löste sich aus der Umarmung seiner Tochter und ging voraus zum Buffet. Das Frühstück wurde auch am bayerischen Sommersitz der Familie englisch zelebriert: Rose hatte gebratenen Schinken und Speck, Rührei, kleine Würstchen, Porridge, Orangenmarmelade und Toasts appetitlich angerichtet. Letzteres ein Zugeständnis an die Mutter, Lady Margaret, die Süßes zum Frühstück bevorzugte. Außer Tee, Kaffee und Fruchtsaft stand heute ein Kübel mit einer Flasche eisgekühltem Champagner bereit.
„Auf dich, kleine Schwester, jetzt kann man allmählich etwas mit dir anfangen …“ Lorenz, der vier Jahre ältere Bruder, ließ den Korken knallen. Der Champagner perlte überschäumend in die Kristallgläser. Lachend stießen sie mit dem Geburtstagskind an, und sogar Hubert von Herkomer, der sonst nie Alkohol trank, nippte am Glas und prostete Gwenddydd zu.
„Nun, Darling“, schmunzelte die Mutter und nahm sie in den Arm, „vorbei das Jungmädchendasein, jetzt ist Zeit, eine Lady zu werden!“
„Ach was, lasst mir nur mein Küken, meine kleine Zauberfee, wie sie ist.“ 
Der Vater drückte Gwenddydd an sich. „Seit 20 Jahren ist sie mein Sonnenschein, ich mag gar nicht daran denken, dass sie nun bald flügge ist und uns irgendwann davonfliegt …“ Für einen Moment wurde er ernst, dann lächelte er wieder und hob nochmals das Glas: „Auf dich, my sweetheart, bleib, wie du bist, du bist wunderbar.“
„Aber Daddy, du weißt doch, wie ich euch liebe, ich denke nicht daran, euch zu verlassen, ein Leben ohne euch kann ich mir gar nicht vorstellen!“
„Na ja, irgendwann, mein Kind, wird es aber einmal so sein …“ Die Stimme des Vaters klang seltsam verhalten.
„Ach was, eines Tages kommt der Prinz auf dem Schimmel angeritten und entführt dich. Also – noch vor ein paar Jahren war man mit zwanzig schon eine alte Jungfer …“, feixte der Bruder.
„Unsinn, ich will überhaupt nicht heiraten, ich bleibe bei Daddy und Mum.“
Jetzt lachten wieder alle und bedienten sich schließlich am Buffet. Lady Margaret und Lorenz griffen kräftig zu, nur Gwenddydd brachte vor Aufregung kaum einen Bissen hinunter. Wenn doch nur das Frühstück schon vorbei wäre und sie die Geschenke auspacken könnte! Auch der Vater aß nur ein paar Löffel Porridge und eine Gabel voll Rührei.
„Geht’s dir gut, Daddy?“ Besorgt blickte Gwenddydd auf ihren geliebten Vater. Kam es ihr nur so vor, oder war er heute ganz grau im Gesicht? Als wäre er über Nacht um Jahre gealtert? Einen Moment lang überkam sie ein ungutes Gefühl. Sie umarmte ihn ungestüm: „Ist auch alles in Ordnung, Daddy?“
„Ja, ja, Darling, keine Sorge! So – und wenn ihr fertig seid, lasst uns in den Salon hinübergehen. Ich sehe ja, meine kleine Gwenddydd platzt schon vor Neugierde.“ Hubert von Herkomer nahm die Hand seiner Tochter und ging mit ihr voraus in den Blauen Salon. Im ersten Stock des Anbaus gelegen und nach der Farbe seiner Tapeten benannt, war er der repräsentative Aufenthalts- und Empfangsraum des Anwesens. Hier traf sich die Familie gern am Abend, und hier empfing sie ihre Gäste. Die übrigen Räume des Hauses dagegen waren schlicht und ländlich eingerichtet. Ignaz, der Hausdiener, hatte im Kamin bereits ein Feuer angezündet und das Knistern der brennenden Holzscheite verbreitete eine heimelige Atmosphäre. Vor dem offenen Kamin luden zwei sich gegenüberstehende wuchtige Ottomanen zum Verweilen ein, dazwischen stand ein kunstvoll geschnitzter Eichentisch. Darauf waren die unterschiedlichsten Päckchen und Schachteln drapiert, allesamt in bunt glitzerndes Papier eingepackt. Eine dicke Schriftrolle lag obenauf und zog Gwenddydds neugierigen Blick auf sich. Sie sah ihren Vater fragend an, und als dieser aufmunternd nickte, griff sie danach. Sie löste das dicke rote Band, mit der sie verschnürt war. 
Urkunde war auf der ersten Seite der Dokumentenmappe zu lesen, die außerdem mit einem Siegel mit Bändchen, einem ein-gravierten Wappen und den Angaben des Notars versehen war. 
In der Mappe viel Text und ein großer Lageplan, auf dem sie das Herkomer-Anwesen samt Grundstück, Wohnhaus und Turm erkannte. Und obwohl sie genauso gut Deutsch wie Englisch sprach, verstand sie nicht recht, was hier geschrieben stand und was es bedeutete. Wieder blickte sie fragend auf ihren Vater.
„Meine liebste Gwenddydd,“ Hubert von Herkomers Stimme klang geradezu feierlich, „mit dieser Urkunde ist es amtlich verbrieft, dass du die stolze Besitzerin dieses Anwesens bist mitsamt Grundstück, Wohnhaus, Nebengebäuden und dem Mutterturm. Ich weiß, wie du diesen Sommersitz und den Turm hier liebst. Schon immer hatte ich das Gefühl, hier gehörst du her, hier ist dein Zuhause, mehr als in Bushey. Mir scheint, in dir  kommt das deutsche Erbe meiner Familie, speziell das meiner verstorbenen Mutter, am meisten durch. Du bist ihr sehr ähnlich, nicht nur im Äußeren, auch die Liebe zur bayerischen Heimat, zu Pflanzen und Tieren und auch die musikalische Begabung hast du von ihr. Deshalb habe ich dir das Anwesen schon vor einigen Jahren überschrieben. Bis zu deiner Volljährigkeit, heute in einem Jahr an deinem 21. Geburtstag, ist unser Freund Georg Mayr noch als Vormund hierüber eingesetzt. Danach kannst du frei über alles verfügen. Zwei Einschränkungen gibt es allerdings: Solltest du kinderlos sterben (was ja eher unwahrscheinlich ist), fällt das Anwesen an die Familie zurück. Und zweitens: Für Vetter Peter mit Familie ist ein lebenslanges Wohnrecht in der Wohnung im Erdgeschoss und eine monat-liche Leibrente von 100 Goldmark eingetragen. Heute an deinem 20. Geburtstag ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen, dir dies mitzuteilen.“ Seine Augen glänzten verdächtig feucht, als er Gwenddydd an sich drückte.
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Bildrechte:

Gemälde HvH. "In pensive Mood"

und Foto Mutterturm Landsberg

Herkomer-Stiftung Landsberg

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